Gedichte

Erich Fried #

Kleines Beispiel (1982)

Auch ungelebtes Leben
geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer
wie eine Batterie
in einer Taschenlampe
die keiner benutzt

Aber das hilft nicht viel:
Wenn man
(sagen wir einmal)
diese Taschenlampe
nach so- und sovielen Jahren
anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn du sie aufmachst
findest du nur deine Knochen
und falls du Pech hast
auch diese
schon ganz zerfressen

Da hättest du
genau so gut
leuchten können

Herrschaftsfreiheit (1984)

Zu sagen
“Hier
herrscht Freiheit”
ist immer
ein Irrtum
oder auch
eine Lüge:

Freiheit
herrscht nicht

Humorlos (1967)

Die Jungen
werfen
zum Spaß
mit Steinen
nach Fröschen

Die Frösche
sterben
im Ernst

Rückwärtsgewandte Utopie (1981)

Angeklagt
der Unmenschlichkeit
behauptet
der Nichtmehrmensch
immer noch
erst
ein Nochnichtmensch
zu sein

Zu guter Letzt (1983)

Als Kind wusste ich:
Jeder Schmetterling
den ich rette
jede Schnecke
und jede Spinne
und jede Mücke
jeder Ohrwurm
und jeder Regenwurm
wird kommen und weinen
wenn ich begraben werde

Einmal von mir gerettet
muss keines mehr sterben
Alle werden sie kommen
zu meinem Begräbnis

Als ich dann groß wurde
erkannte ich:
Das ist großer Unsinn
Keines wird kommen
ich überlebe sie alle

Jetzt im Alter
frage ich: Wenn ich sie aber
rette bis ganz zuletzt
kommen doch vielleicht zwei oder drei?

Lǎozǐ #

Ich persönlich mag die Übersetzung von Günther Debon.

Dàodéjīng - Kapitel 11

[…]

Man knetet Ton zurecht
Zum Trinkgerät:
Eben dort, wo keiner ist,
Ist des Gerätes Brauchbarkeit.

[…]

Wahrlich:
Erkennst du das Da-Sein als einen Gewinn,
Erkenne: Das Nicht-Sein macht brauchbar.

Dàodéjīng - Kapitel 15

Wer im Altertum gut war als Meister,
War subtil, geheimnisvoll, mystisch, durchdringend;
So tief, dass er uns unbegreiflich bleibt.
Wohl! Und weil er unbegreiflich bleibt,
Will ich lieber dartun sein Gebaren:

So zögernd, ach!
Wie wenn man winters quert einen Strom;
So ängstlich, ach!
Wie wenn man fürchtet die Nachbarn rings;
Verhalten, ach!
Als wäre zu Gast man geladen;
Nachgiebig, ach!
Wie vor der Schmelze das Eis;
Gediegen, ach!
Gleich einem Grobholz;
Weit, ach!
Gleich einem Flusstal;
Chaotisch, ach!
Gleich einem Strudel.

Wer kann den Strudel stillen,
Auf dass er mählich werde rein?
Wer kann das Ruhende bewegen,
Auf dass es mählich Leben gewinne?

Wer diesen <i>Weg</i> bewahrt,
Wünscht nicht, erfüllt zu sein.
Wohl! Nur was unerfüllt,
Kann auch verschleißen ohne Erneuen.

Dàodéjīng - Kapitel 20

Brich ab das Lernen, so bist du sorgenfrei!

Sind denn “Jawohl!” und “Recht gern!"
Wirklich einander so fern?
Sind denn das Gute, die Schlechtigkeit
Wirklich einander so weit?
“Wem andere Menschen sich beugen,
Dem musst auch du dich beugen”:
Welch Öde doch! Und kein Ende noch!

Die Menschen alle sind ausgelassen,
Als säßen sie zechend beim Opferfest,
Als stiegen sie auf zu den Frühlingsterrassen.
Ich allein liege noch still,
Kein Zeichen hab ich gegeben,
Gleich einem kleinen Kinde,
Das noch nie gelacht hat im Leben;
Bin schwankend, bin wankend,
Als hätt ich die Heimat verloren.
Die Menge der Menschen hat Überfluss;
Nur Ich bin gleichsam von allem entblößt.
Wahrlich, Ich habe das Herz eines Toren,
So dunkel und wirr!
Die gewöhnlichen Menschen sind hell und klar;
Nur Ich bin trübe verhangen.
Die gewöhnlichen Menschen sind strebig-straff;
Nur Ich bin bang-befangen.
Ruhelos gleich ich dem Meere;
Verweht, ach, bin gleichsam ich ohne Halt.

Die Menschen machen sich nützlich all,
Nur Ich bin halsstarr, als ob ich ein Wildling wäre.
Nur Ich bin von den andern Menschen verschieden -
Der ich die nährende Mutter verehre.

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